Lungenflügel

Oder: Langsam, sein

05.11.2014 - Berlin Friedrichshain
“Ich glaube, ich habe ein Problem mit Geschwindigkeit. Ich kann Lieder nicht zu Ende hören, mag an der Ampel nicht stehen bleiben und auf grünes Licht warten. Auch nicht am Bahnsteig auf die U-Bahn.”

26.07.2018 - Berlin Prenzlauer Berg
“Die ersten Menschen, die im Jahr 1825 mit der Bahn gefahren sind, hatten Angst. Angst dass die etwa 30- maximal 60 Stundenkilometer für den menschlichen Körper zu schnell seien und die Geschwindigkeit des Zuges sie umbringen könnte. Heute schmunzeln wir. Angst vor dem Tod durch 30km/h. Angst vor dem Ersticken bei 30km/h. Wir schmunzeln. Angst vor dem Tod durch Geschwindigkeit. Hat sie damals, vor 200 Jahren, einen Zugreisenden umgebracht? Hat sie nicht. Oder? - Zumindest nicht sofort.

Vielleicht aber ganz langsam, jeden Tag und jeden Tag ein bisschen mehr?
Vielleicht ist der Tod durch Schnelllebigkeit ein schleichender Prozess – so schleichend, dass wir es nicht einmal bemerken.”

09.10.2018 - Berlin Friedrichshain
Wir gehen, tippen, essen, reisen und sprechen schnell; atmen hastig und füllen unsere Lungen nur zur Hälfte mit Sauerstoff. Sind stolz: „Halb voll - nicht halb leer!“ Dass unsere Lungen, unsere Herzen auch „voll voll“ sein könnten – soweit denken wir gar nicht. Womöglich dauert das zu lang.Wir haben Möglichkeiten – so viele, schier unendliche und großartige, ständig neue Möglichkeiten. Und wir möchten so viele wie möglich wahrnehmen. Wir füllen unsere Tage, Wochen, Monate mit Events und Reisen, mit Terminen und Verabredungen. (Terminkalender gefüllt = Leben erfüllt? Tage, Wochen, Monate nicht mehr füllen, sondern fühlen.) Stellen uns am Smartphone einen Reminder ein. Damit wir diese großartigen Ereignisse nicht vergessen. Und bedenken dabei nicht: Wenn eine Möglichkeit von solch hoher Bedeutung für uns ist: wie könnten wir sie vergessen? Was wird aus der Vorfreude, die doch vermeintlich die schönste Freude ist? Haben wir dafür keine Zeit? Weil der Kalender so voll und weil alles so schnelllebig ist?

Wir hören Lieder nicht zu Ende, weil das Weiterschalten so einfach ist. Ein Doppelklick an meinem Headset. Kein lästiges Kassette umdrehen oder zurückspulen. Und so kommt der Doppelklick zum Einsatz, spätestens bei Minute 1:47. Das reicht. Jetzt was anderes. Ich möchte jetzt etwas Neues hören.Wir packen unseren Rucksack und speichern stolz all die Flugtickets im iPhone Wallet ab. 3 Wochen Südostasien, 9 Flüge. Abenteuer vorprogrammiert. Adrenalin. Erst Thailand, Cambodia, dann Vietnam. Weiter nach Laos und Myanmar. Und dann Indonesien - weil die Verbindungen so günstig sind. Das muss man nutzen. So viel wie möglich sehen. Und ohne Zweifel: Wir haben viel gesehen. Jede Nacht ein anderes Hostelbett und mindestens alle 3 Tage einen neuen Flughafen. Strände, Dschungel, Märkte, Elefanten. Aber worin die vietnamesische Küche sich von der Thailändischen unterscheidet? Puh, keine Ahnung.Und: Wenn wir dank Globalisierung und Digitalisierung zu jeder Zeit an jedem Ort sein können, was wird dann aus dem Zauber von „zur rechten Zeit am rechten Ort“? Wann warst Du zuletzt da? Zur rechten Zeit am rechten Ort, meine ich.

08. Januar 2018 21:27 – Sossusvlei, Namibia
“Ich bin da. Ich bin. Da. Ich bin.Es wird Abend in der Wüste. Wenn die Hitze des Tages am Horizont flimmert, dann flackert, tiefrot aufleuchtet und schließlich erlischt. Ausgepustet von der Brise, die über die Erde zieht, Dünen glatt streicht, die Spuren des Tages im Sand verwischt und das Firmament tiefblau einfärbt. Kühle Luft, Aufwind, Gänsehaut
noch warm.
Ich bin da.Und wenn dann – zaghaft zuerst, sanft, schüchtern beinahe – kleine Lichter aufleuchten. Eins, eins, eins, noch eins. Eins. Sternschnuppe, Meteorit. Es wird Nacht in der Wüste. Ich bin da.Und ich fühle: ich bin immer da, denn: Raum und Zeit sind eins. Überall ist hier. Jetzt ist immer. Und: „Ich bin zur rechten Zeit am rechten Ort“ wird zu: Ich bin.
Wüstensand, Himmelszelt.
Atmosphäre. Atme. Spähre.”

09.10.2018 - Berlin Friedrichshain
Und heute?
Heute: Höre ich Lieder bewusst zu Ende. Und wenn mir eines besonders gut gefällt, setze ich mich am Straßenrand kurz hin. Schließe die Augen und lausche. Höre noch zwei weitere. Lausche, höre, fühle.
Heute steige ich ganz langsam in den Zug ein. Vor der Geschwindigkeit habe ich keine Angst. Die 290km/h des ICE bringen mich quer durch die Republik. Schnell. Berlin - München. In unter vier Stunden. Und ich steige ganz achtsam in den Zug ein. Freue mich auf vier entschleunigte Stunden, auf vorbeiziehende Felder, Windräder, Tunnel, Bahnhöfe. Und tiefe Atemzüge. Vorfreude. Wir alle wissen: ein tiefer Atemzug ersetzt drei flache. Mindestens. Und: Ein tiefer Atemzug öffnet den Brustkorb, schafft Raum, hebt Schultern und Gemüt. Wir atmen tief und schweben – beinahe.
Es gibt einen Grund. Dass wir nicht schneller atmen können, als der Sauerstoff braucht, um in unsere Blutbahn zu gelangen.

Und ich glaube, es gibt einen Grund.
Dass Lungenflügel Lungenflügel heißen, meine ich.

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